Ich muss nicht perfekt sein

Was ist Perfektionismus?

Haben Sie hohe Leistungsstandards und müssen alles perfekt machen? Setzen Sie sich unter hohen Erfolgsdruck, können nicht delegieren? Möchten Sie es den anderen beweisen? Sind sie ständig dabei sich zu optimieren um kulturelle Normen zu erfüllen?

Die Werbung, unsere Bekannten und Kollegen leben uns ein vermeintlich perfektes Leben vor. Haus, Partnerschaft, Auto, Statussymbole, perfektes Aussehen, gute Ernährung, Sport, tolle Urlaubsziele und so weiter. Die Gesellschaft erzeugt bei uns den Eindruck das Leben der anderen sei perfekt und unterbewusst streben wir diesen Idealen nach. Wir vergleichen den SOLL mit unserem IST Zustand und sind chronisch unzufrieden.

Viele Menschen neigen zum Perfektionismus. Dieser treibt uns an erstklassige Leistungen abzuliefern, wogegen ja nichts einzuwenden ist – schließlich wollen wir etwas im Leben erreichen. Aber mit welcher Motivation? Aus reiner Freude an der Arbeit und am Ergebnis? Das gute Gefühl etwas gut zu können? Die Freude daran, die Welt zu einem besseren Ort zu machen? Oder wollen wir nur anderen Menschen (Eltern, Partner, Kollegen, Lehrer, Freunde, Bekannte) etwas beweisen? Das kann ein Problem sein und viel unnötiges Leid verursachen, wie ich in meinem Leben schmerzlich erfahren musste.

Mein Perfektionismus

Ich setze mich mein Leben lang schon unter einen sehr hohen Erfolgsdruck und habe den tief sitzenden Glaubenssatz etwas leisten zu müssen und nicht gut genug zu sein. Die Ursachen liegen in meiner Kindheit und Jugend. Ich erinnere mich an eine Szene mit meinem Vater in der ich herumgeturnt bin und stolz sagte “Kuck mal was ich kann!” Meinem Vater fiel nichts besseres ein als zu sagen “Eigenlob stinkt”. Auch in der Schule wurde ich schwer gemobbt und auch Freunde und Cousins behandelten mich mies. Ich wusste mich nicht zu wehren und meine Grenzen zu schützen, das hatte ich nicht gelernt zuhause. Ich hatte den Eindruck bekommen dass Aggression verboten ist. Durch diese Erlebnisse hat sich der Glaubenssatz “Ich bin nicht gut genug” eingeprägt.

Als ich mich für das Medieninformatikstudium entschied stand ich unter enormen Erfolgsdruck. Ich habe mich durch die Mathematikvorlesungen gequält und entwickelte einen großen Ehrgeiz. Schließlich schaffte ich durch den enormen Druck den ich mir machte trotz Schizophrenie mein Studium und lieferte große Leistungen ab. Aber in diesem Prozess hat meine Seele gelitten und ich bekam während des Studiums 2006 meine erste Psychose. In meinem Beruf als Softwareentwickler ging der Stress genauso weiter. Es gab Überstunden und Wochenendarbeit. Ich biss mich weiter durch weil ich dachte ICH MUSS, um (vielleicht meinen Eltern) zu beweisen dass ich etwas kann und dass ich etwas wert bin. Ich hatte und habe teilweise immer noch ein niedriges Selbstwertgefühl und dieses ist die Keimzelle des Perfektionismus. Es ist die Sucht nach Anerkennung anderer Menschen die wir in Familie und Jugend nicht bekommen haben. Warum habe ich mir das jahrzehntelang angetan? Rückblickend ist es kein Wunder dass ich viele Monate meines Lebens in Krankenhäusern verbrachte.

Später während meines Studiums hatte ich große Freude am Improtheater und an der Musik. An der Hochschule der Medien hatte ich viele glückliche Jahre und ich hatte eine langjährige wundervolle Beziehung. Da hat sich sehr viel Selbstvertrauen aufgebaut und an meinen Auftritten mit Theater, Gitarre und Gesang hatte ich große Freude. Ich war glücklich. Das Studium war weiterhin stressig, aber ich blühte auf. Dann hatte ich eine längere Pause vom Improtheater (durch die Psychosen) und versuchte später in der Nachfolgegruppe “Otter im Glashaus” Fuß zu fassen und wieder auf mein altes, hervorragendes Spielniveau zu kommen. Das hat manchmal funktioniert und wir hatten auch tolle Jam Sessions bei mir zuhause mit meinen Theaterfreunden. Ich habe auch versucht bei mehreren Metalbands als Sänger unterzukommen.

Aber in den Proben hatte ich oft sehr große Ängste. Mir war bewusst dass ich nicht in Gefahr bin aber die Ängste kamen trotzdem. Ständig lief ein Film in meinem Kopf “Ich kann nicht mehr, ich muss absagen, ich muss nach hause, ich habe Angst”. Manchmal hielt ich durch, manchmal ging ich tatsächlich früher nach hause und war sehr enttäuscht von mir, diese Gedanken vermiesten mir das Impro und die Musik an denen ich früher so viel Freude hatte. Ich hatte unbewusst Angst, nicht gut genug zu sein, einen Blackout zu bekommen, zu scheitern, abgelehnt zu werden, kein Teil der Gruppe zu sein, nicht gemocht zu werden. Mit meinem persönlichen Perfektionismus hängt auch eine soziale Phobie und ein geringes Selbstwertgefühl zusammen

Perfektionismus überwinden

Ich habe akzeptiert und reflektiere, wo mein Perfektionismus herkommt und was er in meinem Leben angerichtet hat. Das zentrale Problem an dem ich arbeiten will ist der Glaubenssatz “ich bin nichts wert”. Ich möchte daran arbeiten Fehler machen zu dürfen. Gerade im Impro habe ich gelernt dass Scheitern erlaubt ist. Die Erlaubnis zu Scheitern, zu versagen, einen Blackout zu bekommen ist sehr befreiend. Sie sind auf einer Bühne um eine Rede zu halten, bekommen einen Blackout und verlassen fluchtartig das Podium? Davon geht die Welt nicht unter! Es sagt nichts über Ihren Wert als Mensch aus! Und es muss Sie nicht jeder mögen. Ich habe vor kurzem den netten Satz gehört “Am Arsch führt auch ein Weg vorbei”. Zudem ist es so dass 10% aller Menschen Sie einfach nicht mögen, weil ihnen Ihre Nase nicht passt. Dass ist aber ein Problem dieser Menschen und nicht Ihres!

Akzeptieren Sie dass, Sie ein Mensch sind und Menschen machen Fehler. Das ist völlig ok, denn aus Fehlern lernt man. Es ist ein ganz natürlicher Lernprozess. Sie müssen nicht alles richtig machen um sich etwas zu beweisen. Als ich heute morgen im Frühsport war versuchte ich die Bewegungen der Übungsleiterin perfekt zu kopieren weil ich es unbedingt richtig machen wollte. Wieder der Leistungsdruck. Dann dachte ich “Moment – ich muss nicht perfekt sein”, daraufhin entspannte ich mich und konzentrierte mich einfach auf die Freude an der wohltuenden Bewegung.

Wenn Sie arbeiten, sich weiterentwickeln oder einem Hobby nachgehen, sie müssen es nicht perfekt machen. “Sehr gut” ist völlig ausreichend. Wollen Sie sich mehr bewegen, sich anders ernähren, ein guter Vater oder Mutter sein? Machen Sie 80% richtig. Befreien Sie sich vom Leistungstunnel in dem Sie stecken und lassen auch mal fünfe gerade sein. Achten Sie auf regelmäßige Entspannung (siehe auch diesen Artikel: Richtig entspannen) und kultivieren Sie eine Einstellung von Selbstmitgefühl. Verabschieden Sie sich von den alten Glaubenssätzen und sagen sich so oft wie möglich:

“Ich bin OK”

Ein weiterer wichtiger Punkt der mit Perfektionismus zusammenhängt, ist es sich zu viel vorzunehmen und zu viele Baustellen zu haben. Ich habe viele Hobbies und Interessen die ich am liebsten alle gleichzeitig und am liebsten perfekt machen wollte. Ich hab das Problem schon mein Leben lang: Sobald es mir etwas besser geht fange ich an Pläne zu schmieden und mich maßlos zu überfordern, nehme noch dieses und jenes Projekt an, weil ich nichts verpassen und so hochgesteckte Ziele erreichen wollte, weil ich (mal wieder) dachte, ich MUSS. Nach der Tagesklinik aus der ich Anfang 2024 entlassen wurde habe ich den perfekten Tagesplan für meine Tagesstruktur erstellt, der komplett voll und von morgens bis abends durchstrukturiert war. Ich wollte mich sogar “perfekt” entspannen. Das konnte nur schief gehen und dass Ende vom Lied war dass ich stundenlang auf der Couch versumpfte und enttäuscht von mir war dass ich meinen perfekten Plan nicht geschafft habe und genau deswegen ist Perfektionismus so problematisch.

Ich habe in der letzten Krise gelernt realistisch zu sein. (siehe auch Krise als Chance) Es ist wichtig Prioritäten zu setzen und sich von manchem Baustellen zu trennen, auch wenn es schwer fällt. Manche Träume muss man aufgeben damit man Zeit und Fokus und Energie für die zwei oder drei Projekte zu haben die einem wirklich am Herzen liegen und unseren Werten entsprechen (siehe auch “Der Wertekompass“).

Manche Aufgaben und Herausforderungen die an uns herangetragen werden dürfen wir ablehnen. Wenn Sie sich zu viel vornehmen und alles schaffen wollen und denken ICH MUSS ICH MUSS ICH MUSS ist das ein Rezept für einen Burnout oder eine Psychose. Tun Sie sich dass nicht an und schalten Sie einen Gang runter. Niemand ist perfekt! Sehr gut ist völlig ausreichend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert