Konsensrealität (zurück ins hier und jetzt)

Was ist real?

Als schizophrene Menschen neigen wir dazu uns in Gedankengebäuden und Systemen zu verlieren und abzudriften. Wir verlieren manchmal die Bodenhaftung und den Bezug zu dem was man “Konsensrealität” nennt. Das Wort “Konsens” bedeutet “Übereinkunft”. Philosophen durch die Jahrtausende haben sich den Kopf darüber zerbrochen was die Natur der Realität sei und eine eindeutige, endgültige Antwort und Gewissheit wird es (vermutlich) niemals geben. In ihrem Lied “schön ist der morgen” singt Nana Mouskuri an einer Stelle: “Kommen und gehen, können die Stunden, alles verstehen kann der Mensch nie.”.

Wir alle konstruieren uns unsere eigene Realität, in jedem Moment aufs Neue, unser Gehirn stützt sich auf die Informationen die es durch die Sinneseindrücke bekommt, diese werden von unseren grauen Zellen weiterverarbeitet. Das Gehirn sammelt und verarbeitet also sensorische Daten aus der Umwelt, kombiniert sie mit Erinnerungen, Emotionen und Kontext, um ein zusammenhängendes Bild der Wirklichkeit zu schaffen. Hinzu kommen Vorhersagemodelle und der Abgleich von Sinneseindrücken mit gespeicherten Erinnerungen.

Unterschiedliche Gehirne erzeugen unterschiedliche Wahrnehmungen derselben Umwelt. Dies zeigt, dass Realität eine Mischung aus externen Reizen und interner Verarbeitung ist.

Diese Verarbeitung kann in einer Psychose eine ungewollte Dynamik entwickeln so dass wir mental abdriften und in einer “persönlichen Realität” gefangen sind in der eine Diskrepanz zur Konsensrealität herrscht. Wir sehen, fühlen, hören, denken Dinge die die Allgemeinheit nicht denkt oder empfindet. Symptome einer paranoiden Psychose, wie Wahn, Derealisation, Halluzinationen und Stimmen hören können entstehen. Das hat weitreichende Folgen und kann je nach dem was man sich “zusammenspinnt” eine ernste Gefahr für die mentale Gesundheit, das eigene Leib und Leben oder das anderer Menschen sein. Denken Sie nur an die Amokläufe wie den auf der Insel Utøya in Norwegen im Jahr 2011 durch Anders Breivik, die leider immer mal wieder auf der Welt stattfinden.

Paranoia

Paranoide Wahnvorstellungen können sehr beängstigend sein und oft real wirken.

Wahngebäude sind zudem sehr vielfältig. Es fällt aber auf das es ein paar Klassiker an Wahnvorstellungen gibt. Hier eine Auswahl:

  • Ich bin die Reinkarnation einer historischen Persönlichkeit
  • Ich bin der Messias
  • der Geheimdienst verfolgt mich
  • ich lebe in der Matrix
  • die Kollegen reden über mich
  • mein Nachbar will mich vergiften
  • jemand will mich umbringen
  • ich werde von einer höheren Macht bestraft
  • Eine dunkle Macht will mich vernichten
  • Getarnte Außerirdische leben unter uns
  • „Mein Handy wird abgehört.“
  • „Die Regierung hat einen Chip in meinen Körper implantiert.“
  • „Kameras in meiner Wohnung überwachen mich heimlich.“
  • „Ich bin Teil eines apokalyptischen Plans.“
  • „Engel oder Dämonen kommunizieren direkt mit mir.“
  • „Das Universum hat mich für eine besondere Mission ausgewählt.“
  • Dieses Lied im Radio hat etwas mit meinem Leben zu tun

Kommt ihnen das bekannt vor? Herzlichen Glückwunsch und willkommen im Club der Psychotiker!

Haben sie Angst verrückt zu werden? Keine Sorge, wenn sie denken sie seien verrückt ist das ein gesundes Zeichen für Selbstreflektion. Denn wenn sie wirklich in einen Wahn abdriften würden, es wäre ein unbewusster Prozess und Sie würden es nicht mitbekommen.

Natürlich sind diese Gedanken irrational und schädlich, aber sie haben eine starke mentale Sogwirkung und wir müssen uns dessen bewusst werden damit wir normal und gesund in dieser Welt agieren können. Denn der Wahn hindert uns daran das erfolgreiche und werteorientierte Leben zu führen dass wir eigentlich führen wollen. Wir verlieren wertvolle Zeit in der wir unseren Beruf verfolgen, einem Hobby nachgehen oder das Zusammensein mit unseren Liebsten genießen könnten.

Paranoia ist Zeitverschwendung und wir müssen uns von ihr lösen und lernen damit umzugehen.

Eine psychotische Episode aus meinem Leben.

2020 habe ich die Sommerferien mit ein paar Freunden in Kroatien am Meer im Haus meiner Mutter verbracht. Wir hatten eine schöne Zeit, sind an den Strand gegangen, haben Ausflüge gemacht, zusammen gegessen und getrunken und haben eine Bootstour auf dem Meer gemacht.

Leider begann ich zunehmend abzudriften und versank in meiner Gedankenwelt. Am Abend vor dem Rückflug nach Stuttgart driftete ich komplett in meine private Realität ab und schlief die ganze nacht nicht.

Am nächsten Tag befand ich mich in einer Traumwelt und alles war unheimlich, bedeutungsschwanger und fremdartig. Ich hatte eine schwere Psychose. Ich schaffte mit letzter Kraft den Flug und die Reise. Auf dem Weg vom Bahnhof nach hause wurde es zunehmend schlimmer. Ich war auf dem Heimweg und jedes Schild und jede Wahrnehmung hatte eine Botschaft an mich. Ich hatte den Gedanken ich müsse jetzt zu hause stundenlang Tai-Chi machen um wieder zu mir zu kommen. Ich versuchte es 5 Minuten dann war ich erschöpft und verlor mich in weiteren psychotischen Gedanken. Ich hängte den Fernseher ab, weil ich Angst hatte das google mich überwacht. Dann hatte ich den Gedanken ich sei Gott und das Äon sei zu Ende und ich muss das Universum neu erschaffen. Ich versuchte mit meinen Händen die Planeten des Sonnensystems zu formen um so ein neues Universum zu schaffen. Ich hatte den Gedanken ich sei mit negativer Energie aufgeladen und ich versuchte diese Energie gegen ein Auto zu lenken, dabei stand die Marke “Mercedes-Benz” für eine finstere Macht die ich bekämpfen muss.

Ich hatte den Gedanken ich sei tot und ein Geist. Ich legte mich hin und hatte den Gedanken “so fühlt es sich an, wennn man in die Hölle kommt”. Dann hatte ich den Gedanken die einzige Möglichkeit meine Seele zu retten wenn ich eine Mission annehme. Die Aufgabe solle darin bestehen dass ich mich bei google als Informatiker einschleiche und dann eine große Enthüllung über digitale Überwachung mache die die Welt revolutioniert.

Das ging eine ganze Weile so und ich stürzte von einem instabilen Wahngebäude ins nächste. Um es abzukürzen: Zum Glück tat ich dann das einzig richtige und startete einen Chat mit einer Freundin, welche sofort erkannte dass ich eine schwere Psychose habe. Sie schrieb mir “Schau was real ist. Was kannst du anfassen?”. Später kamen meine Freunde die sie zusammengetrommelt hat und brachten mich ins Klinikum Ludwigsburg, wo ich dann langsam zur Ruhe kam. Irgendwann klang die Psychose ab und ich konnte wieder nach hause.

Eine solche Dramatik können psychotische Episoden entwickeln und es ist mir ein Herzensanliegen das es in der Lebenswelt anderer Menschen gar nicht erst zu solchen Auswüchsen kommt. Mit dem richtigen Wissen und der richtigen Einstellung.

Wahn erkennen

Als schizophrene Menschen brauchen wir einen eingebauten Warnblinker der aufleuchtet sobald wir paranoide Gedanken erkennen. Dieses Erkennen können wir lernen wenn wir es üben.

Das Erkennen (“ah, hallo Wahngedanke”) ist der erste entscheidende Schritt. Dann kommt die Konsensrealität ins Spiel. Natürlich dürfen wir über uns und unsere Gefühlswelt nachdenken, aber es nicht übertreiben. Entscheidend ist es, dass wir uns immer wieder freundlich und gebetsmühlenartig ins hier und jetzt zurück holen. Was ist “Jetzt”, was ist “jetzt” wichtig, was tue ich “jetzt” gerade, was kann ich sehen, was kann ich anfassen, wie sehen die anderen Menschen im Bus oder im Büro aus, was ist real?

Was ist die Übereinkunft der Menschen über die Realität und wie komme ich dort hin? Realität ist wie bereits sehr beschrieben sehr subjektiv aber wir MÜSSEN uns immer wieder an der Konsensrealität orientieren wenn wir ein erfolgreiches Leben mit Schizophrenie leben und frei von psychotischen Ängsten sein wollen. Wir wollen glücklich sein und in dieser Welt “funktionieren” und unsere Ziele verfolgen!

In der Konsensrealität gibt es kein Gefühl einer dunklen Bedrohung die uns schaden will weil der “Konsens” ist: Wir sind nicht in Gefahr durch finstere Mächte. Es ist alles “stinknormal”.

Ich habe beispielsweise oft den Gedanken “irgendwas stimmt nicht” oder “ist das eine Verführung des Satans?” oder “hat dieses Plakat etwas mit mir zu tun”, oder “bin ich im Fegefeuer”, oder “ist das alles nur ein Test?”. Ich bin mir meiner Neigung zu Paranoia bewusst und deswegen hat sie keine Macht über mich denn ich beobachte interessiert und neutral meine Gedanken und hole mich immer wieder freundlich in die Konsensrealität zurück und das können Sie auch tun!

Es gilt sanft zu hinterfragen: „Welche Beweise habe ich dafür?“ oder „Könnte es auch eine andere Erklärung geben?“ Denken Sie: “Hallo Wahn, schön das du da bist. Danke aber dich brauche ich gerade nicht”, oder “Stopp, Psychose”, oder “danke, kenn ich schon”, oder “das kann man auch anders sehen”, oder “was würde mein Therapeut dazu sagen?”.

Es gibt für jedes Phänomen eine rationale Erklärung und eine Konsensrealität. Das muss uns jederzeit bewusst sein.

Wahngebäude überwinden

Mit der Zeit werden wir immer vertrauter mit unserem Wahn und lernen ihn zu erkennen als das was er ist: Private Realität der irrationalen, beängstigenden Gedanken. Sie sind nicht real!

Als wichtige Faustregel gilt: “Wenn es dir Angst macht, ignorier es!”. Fühlt sich dieser Gedanke wie eine dunkle Bedrohung an? Erkennen Sie die Qualität eines solchen Gedankens und Sie können lernen solche zu beobachten statt mit ihnen zu fusionieren (d.h. verschmolzen sein, siehe Artikel Acceptance Commitment Therapy)

Holen Sie sich immer wieder zurück in die Realität und wenden Sie sich SOFORT wieder dem zu was real ist, was JETZT wichtig ist, was Sie JETZT gerade tun. Es gibt eine Lebensrealität in der alles leicht und schön und einfach und gesund ist und wir müssen die erforderlichen Schritte gehen um in diese Realität zu gelangen.

Die gute Nachricht ist: Unser Gehirn ist plastisch und kann sich bis an unserer Lebensende neuronal neu vernetzen. Wir können unser Gehirn hin zur Konsensrealtät “erziehen” und unsere “Software” neu programmieren so dass wir besser in dieser aufregenden, spannenden Welt besser zurecht kommen und können anfangen das was das Leben uns bietet zu genießen.

Perspektive für die Gesellschaft

Ein Prozent aller Menschen auf der Welt haben mindestens eine psychotische Episode in ihrem Leben. Das sind 80 Millionen Menschen auf der Welt. 80-Millionen dramatische Einzelschicksale und (unnötiges) Leid in der Psychoseerfahrung.

Ich möchte das Bewusstsein dafür schärfen was eine Psychose ist und wie sie in das Leben von Menschen eingreift. Jeder Mensch sollte sich zumindest bewusst sein das es so etwas wie “Psychosen” gibt, wie man sie erkennt und damit umgeht. So könnte man viel unnötiges Leid vermeiden. Schon in der Schule sollte jeder junge Mensch zumindest einmal davon gehört haben und vorgewarnt sein, dass so etwas auch in seinem oder ihren Leben passieren könnte und wie man Hilfe bekommt. Alles andere wäre grob fahrlässig!

Als ich 2006 meine erste Psychose an meinem Studienort in Ulm hatte, hat es ein Jahr gedauert bis ich professionelle Hilfe und eine Diagnose und Medikamente bekam. Denn: Ich wusste gar nicht was eine Psychose überhaupt ist (!) und so geht es auch vielen anderen neu erkrankten Menschen.

Psychosen werden zudem oft missverstanden und stigmatisiert, was die Betroffenen zusätzlich belastet. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, das Schizophrenie mit “gespaltener Persönlichkeit” in Verbindung gebracht wird, was ein völlig anderes Krankheitsbild ist.

Schizophrene Menschen werden nicht nur mit ihren Symptomen allein gelassen, sondern erfahren häufig auch soziale Ausgrenzung, Gewalt (in Psychiatrien) und Diskriminierung. Dieses mangelnde Verständnis führt dazu, dass viele Menschen erst spät oder gar keine Hilfe erhalten. Manchmal sogar mit tödlichen Folgen!

Wir alle können dazu beitragen, indem wir Vorurteile abbauen, offen darüber sprechen und die Betroffenen als Teil unserer Gemeinschaft anerkennen. Dazu möchte ich mit diesem Blog einen Beitrag leisten.

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